<< Laborant | Arbeitswelt | Zentrifuge >>

Die Arbeit im Bau 90


Gespräch mit Herrn M.L., 82, langjähriger Facharbeiter Ciba/Ciba-Geigy, Februar 2016.

Herr D., Sie waren jahrzehntelang in der Basler Chemie tätig, erst bei der Ciba, dann bei Ciba-Geigy, und haben einen grossen Teil Ihres Lebens in der Chemie verbracht. Jetzt sind Sie seit mehr als 20 Jahren pensioniert. Die Branche hat sich seit den Neunzigern sehr verändert. Wir würden gerne mit Ihnen über Ihre Erfahrungen reden, um zu dokumentieren, wie es früher war, in der chemischen Industrie zu arbeiten.

D: Gerne! Es ist verrückt, wie schnell sich alles ändert. Die Leute, die ich damals eingearbeitet habe, kommen inzwischen selbst ins Pensionsalter. Da merkt man, dass man alt wird.

Ich bin seit Kurzem ebenfalls pensioniert. In dem Fall könnte ich vom Alter her ja ebenfalls Ihr Lehrling gewesen sein!
Das fällt mir gleich eine Geschichte ein. Mein ehemaliger Chef, M. K., war früher einmal mein Lehrling! Das hätte ich damals, als ich ihn ausgebildet habe, natürlich nicht erwartet. Zum Glück hatten wir immer ein gutes Verhältnis.

Was war denn der Grund, dass er zu Ihrem Chef wurde?
Er hatte natürlich einen ganz anderen Hintergrund als ich. Ich war ursprünglich Maschinenschlosser und habe mich erst mit 30 [1964, Anmerkung] zum Farblaboranten ausbilden lassen. Er dagegen hatte in Winterthur eine Technikerausbildung gemacht, war also weitaus besser qualifiziert, und wurde dann Chemiker, später sogar Vizedirektor und dann zufällig mein Chef. Er war es übrigens, der dafür gesorgt hat, dass ich bereits mit 60 in Pension gehen konnte statt mit 65.

Weshalb liessen Sie sich frĂĽhpensionieren?
Ciba-Geigy hatte eine Abteilung von Schweizerhalle nach Basel geholt. Dadurch gab es plötzlich zu viele Leute in der gleichen Abteilung. Dazu kam, dass man damals anfing, auf die Arbeit mit dem Computer umzusteigen und ich nicht mehr alles von Grund auf neu lernen wollte. M. K. kam also zu mir und fragte, ob ich mich damit abfinden könne, bereits mit 60 in Pension zu gehen. Ich sagte ihm, ich hätte nichts dagegen. Es käme aber darauf an, wie das geregelt würde. Denn ich wusste: Wenn ich selbst mit 60 in Pension gegangen wäre, hätte ich 40 % meiner Pension verloren. M. K. versprach mir, dass ich die volle Pension wie mit 65 bekommen würde und mir Ciba-Geigy erst noch die AHV bis 65 bezahlen würde. Da wäre ich ja wirklich dumm gewesen, wenn ich nicht gegangen wäre.

Was war Ihr Zuständigkeitsbereich?
Ich war eine Art Allrounder. Man konnte mich überall einsetzen. Aber offiziell und in erster Linie war ich für die Fabrikationskontrolle zuständig. Sobald ich unterschrieben hatte, durfte man das Produkt verkaufen.

UrsprĂĽnglich hatten Sie aber eine Lehre als Maschinenschlosser gemacht, oder?
Genau, anfänglich hatte ich in Kleinhüningen eine Lehre als Maschinenschlosser in einer chemischen Reinigung gemacht.

Welche Firma war das?
Die Firma Brand, einer Schweizer Firma mit verschiedenen Niederlassungen. Ich und mein Kollege H. haben alles Mögliche gemacht, vom Dachdecken über die Reparatur elektrischer Bügeleisen. Einfach alles, was anfiel. Da erkrankte mein damaliger Chef, Herr M., der früher Chefmonteur bei Sulzer gewesen war, an Angina Pectoris. Das war damals noch etwas Ernstes. Herr Müller konnte nicht mehr arbeiten und ich und mein Kollege Herr H. übernahmen die Leitung der Firma zwischenzeitlich, nachdem ich ausgelehrt war. Da war ich 20 Jahre alt.

Aber das war doch eine Reinigungsfirma. Wieso haben Sie denn Maschinenschlosser gelernt?
Es war eine Reinigungsfirma, aber eine mit angeschlossener Färberei. Etwa 120 Arbeiter waren dort angestellt. Die haben Hosen gebügelt und Textilien eingefärbt. Herr H. und ich hielten den Betrieb eine Weile nur zu zweit am Laufen halten. Doch Bügeleisen und andere Maschinen neu anzuschaffen, das war einfach zu teuer, die haben wir dann selbst repariert.

Und wie kamen Sie von der Braun zur Ciba?
Der alte erste Besitzer, Herr Braun, der ab und zu vorbeikam, traute uns „Jungen“ nicht zu, den Betrieb alleine zu führen. Also stellte er uns irgendwann einen Chef vor die Nase. An sich wäre das nichts Schlimmes gewesen. Doch dieser Chef war leider nicht qualifiziert. Ich hatte eine Ausbildung gemacht, Schweisskurse absolviert, und merkte, dass er Forderungen stellte, die sich nicht erfüllen liessen. Also bekamen wir Streit. Schliesslich fand ich, so könne es nicht weitergehen, und kündigte. Daraufhin hatte ich eine Weile keine Arbeit, denn es gab ja nicht sehr viele Stellen. Damals war ja gerade die Koreakrise. Da fiel mir ein, dass bei der Ciba ja in jedem Bau Schlosser angestellt sind und dass die Ciba eine grosse Schlosserei hat. Also habe ich es einmal probiert. Am Montag habe ich mich angemeldet, am Dienstag war Gesundheitscheck, und am Mittwoch hiess es dann: „Wann können Sie anfangen?" Ich sagte: „Sofort.“ Daraufhin holte mich ein Mann, der Anzug trug, ab, und führte mich in den Bau 92, der damals eine Färberei war. Dort wartete ich einige Zeit auf den Chef. Schliesslich trat der ins Zimmer, sah mich an und meinte, jetzt hätten sie ihm die falsche Person geschickt. Er suche einen Laboranten oder einen Färber, keinen Schlosser. Da sagte ich: „Dann gehe ich halt wieder." Er aber bat mich, zu bleiben. „Wenn Sie so arbeiten, wie das ihr Zeugnis nahelegt, kommen wir gut miteinander aus“, sagte er. „Wollen Sie es nicht einmal in der Färberei probieren?" Ich sagte zu und konnte eine Lehre als Färberlaborant in Form von Abendkursen machen. Ein weiterer Grund, weshalb es mir bei der Ciba gefiel, war die Ferienregelung. Bei Braun gab es nach der Lehre jeweils 1 Woche Ferien im Jahr, nach 9 Jahren 9 Tage und nach 20 Jahren 2 Wochen. Bei der Ciba dagegen gab es nicht nur Weihnachtsgeld, sondern bereits im ersten Jahr 2 Wochen Ferien! Das war dazumal sehr grosszügig. Ausserdem erhielt ich von Anfang an einen Mechanikerlohn, nicht den eines Lehrlings. Dafür musste ich allerdings während der Lehre auf eine Teuerungszulage verzichten.

Dann haben Sie also gleich mit der Arbeit angefangen.
Ja. Erst kam ich in die alte Färberei. Später sind wir in den Bau 92 umgezogen, wo Herr Peter der Betriebschef war. Dort war ich anfangs auch noch hauptsächlich für die Fabrikationskontrolle zuständig. Das änderte sich nach dem Lehrabschluss. Die Prüfung musste ich übrigens in der Geigy machen, obwohl ich ja bei der Ciba angestellt war. Ich schloss mit einer 5,5 ab. Als ich die Prüfung im Sack hatte, versetzte mich der Chef sogleich in ein Speziallabor.

Wofür waren Sie dort zuständig?
Zu meinen Aufgaben gehörten die Lehrlingsausbildung und die (interne) Technikerausbildung. Ich leitete praktisch immer eine kleine Gruppe, sieben bis zehn Leuten. Wenn aber natürlich irgendwo jemand krank wurde, hiess es: „Herr L., Sie übernehmen diese Gruppe zusätzlich.“ Das hatte allerdings auch Vorteile.

Welche denn?
Dadurch konnte ich ĂĽberall die Nase hineinstecken und die ganze Firma kennenlernen. Von der Technikerausbildung her musste ich natĂĽrlich sowieso alles wissen.

Und wann haben Sie eigentlich Ihre Frau kennengelernt?
Meine Frau habe ich kennengelernt, als ich 24 war [vermutlich 1958, Anmerkung]. Nach der Heirat sind wir dann übrigens in das Mehrfamilienhaus meiner Schwiegereltern an der Offenburgerstrasse 49 gezogen, wo auch die beiden Söhne der Schwiegereltern wohnten. Der eine Sohn war Metzger und hat später das Restaurant seiner Schwiegermutter übernommen, den Burgfelderhof.

Könnten Sie uns vielleicht noch kurz etwas zu Ihrer Kindheit erzählen?
Aber nur ganz kurz, wir wollten ja vor allem über meine Arbeit reden. Mein Vater war aus Thun, meine Mutter war ursprünglich eine Bauersfrau aus Egerkingen. Später hat sie dann den Personalchef der Ciba auf der Strasse nach Arbeit für ihren Mann, der damals arbeitslos war, gefragt.

Wo sind Sie in diesem Fall aufgewachsen?
In Kleinbasel. In den Dreissigern herrschte Wohnungsnot, daher lebten wir erst in einer Notwohnung der Ciba in Kleinbasel. Zur Schule ging ich in die Bläsischule, die sich gleich neben der Matthäuskirche befindet. Später zogen wir in eine andere Wohnung, auch im Kleinbasel, in den ersten Stock. Im Parterre darunter befand sich eine Wohnung, die der Ciba gehörte und die sie für Verhandlungen benutzte, die nicht auf dem Firmengelände stattfinden sollten. Sie sehen, ich war der Ciba schon früh sehr nahe! Später hat dann die Basler Kantonalbank diese Parterrewohnung aufgekauft. Unsere Wohnung brauchte sie für Büros, daher mussten wir ausziehen.

Kommen wir auf Ihre Arbeit zurĂĽck. Haben Sie auch im Bau 90 gearbeitet?
Nein. Der Bau 90 war 1956 gebaut und 1957 eröffnet worden. Da war ich schon seit etwa 2 Jahren in der Firma und hatte schon einen festen Arbeitsbereich im Bau 92. Allerdings hatte einen guten Draht zu den wichtigen Chemikern, die dort arbeiteten. Vor allem Dr. Kranenfeld mochte mich. Einmal führte er mich spontan durch den ganzen Bau. Das war, noch bevor er zum Bau 90-Chef geworden war.

Waren Sie dabei, als es im Bau 90 zu der bekannten Explosion kam?
Ja. Das war am 23. Dezember 1969. Es war wirklich eine riesige Explosion. Sie hat den ganzen Bau erschüttert. Ich habe gerade vis-à-vis gearbeitet, weil ich eine Ausbildung leitete. Wir sassen direkt am Fenster. Die Druckwelle war so stark, dass die Glasscheibe heftig zu zittern anfing. Als wir aus dem Fenster schauten, sahen wir, wie alle Leute aus dem Bau hinaus rannten. Von uns aus gesehen wirke es, als hätten die Menschen Verbrennungen, denn sie scheinen ganz schwarz. Daraufhin merkten wir, dass dem zum Glück nicht so war. Was schwarz ausgesehen hatte, war einfach Marineblau, die Farbe, die damals im Bau 90 hergestellt wurde. Die Explosion hatte die Mitarbeiter damit besprüht.


Mitarbeiterfoto der Explosion, Quelle: Privatarchiv

Welche Folgen hatte dieser Unfall fĂĽr die Ciba?
Man ĂĽberlegte sich, den Bau abzureissen.

Dabei war er doch eben erst gebaut worden!
Stimmt. Durch die Explosion hatte man allerdings gemerkt, dass es bei dem Gebäude statische Probleme gab. Man hat sich dann allerdings gegen den Abriss entscheiden.

Weshalb?
Im Bau 90 wurde damals sehr viel Farbstoff produziert. Hätte man den Bau abgerissen, wäre ein wichtiges Standbein der Firma verschwunden. Das wollte man natürlich nicht.

Wissen Sie vielleicht, wie es zur Explosion gekommen ist?
Das Marineblau, das damals in Basel produziert wurde, das sogenannte „Terasil-Marineblau“ [Firmenbezeichnung, Anmerkung], war weltweit führend. Basel war der einzige Produktionsstandort für diesen Farbton. In den riesigen Kesseln wurden im Monat rund 50-60 Tonnen Farbe hergestellt! Das reichte der Ciba allerdings noch nicht, denn die Kunden haben uns den Farbstoff praktisch aus der Hand gerissen. Also versuchte man, die Produktion zu erhöhen. Der zuständige Chemiker war Dr. Weber aus Kleinhüningen. Allerdings war der Unfall im Prinzip nicht seine Schuld. Alles in allem liegt es wohl einfach daran, dass ein Arbeiter unsorgfältig war. Aber wenn man die Produktion nicht hätte steigern wollen, wäre die Wahrscheinlichkeit für einen solchen Unfall viel kleiner gewesen.

Marineblau ist ein Azoprodukt, oder?
Genau. Und anstelle von Schwefelsäure sollte nun Oleum [mit 25-35 % hochkonzentrierte, rauchende Schwefelsäure in Wasser, Anmerkung] für die Produktion eingesetzt werden. Die Reaktionsmischung mit Oleum war jedoch nicht ungefährlich, denn sie lässt sich in getrocknetem Zustand selbst mit einem Federkiel zur Explosion bringen. [Anmerkung: Das wusste man vermutlich erst später.] Solange die Mischung feucht war, drohte zwar keine Gefahr. Nun hat aber vermutlich eines der Rührwerke nicht richtig funktioniert, sodass sich am Rand des Kessels eine Kruste bildete. So reichte ein kleiner Schlag. Wahrscheinlich hat ein Arbeiter nicht aufgepasst und schon ist die Mischung explodiert. Das Marineblau verteilte sich im ganzen Bau. Die Explosion war so heftig, dass sogar die grossen und extrem schweren Farbstoffpressen, die dazu verwendet wurden, die Farbe zu trocknen, umgelegt wurden. Es gab sogar Mitarbeiter, denen es die Schädeldecke wegsprengte. Und es kam sogar noch schlimmer: Die Feuerwehr konnte erst nicht ausrücken!
[Anmerkung: Es gab damals 3 Tote, 15 Schwer- und 13 Leichtverletzte.]

Wie das?
Das ist eine verrückte Geschichte. Gleich vis-à-vis des Bau 90 stand nämlich ein ganz modernes Feuerwehrdepot mit guten Feuerwehrautos. Allerdings hatte die Explosion eine solche Druckwelle erzeugt, dass die Tür des Depots, die automatisch hätte aufgehen sollen, blockiert war.

Der Bau 90 wurde nicht abgebrochen – hatte der Unfall trotzdem Folgen?
Man verstärkte die Statik des Baus, um ihn erdbebensicher zu machen. In der Zwischenzeit war allerdings die Farben-Ciba eingestellt worden.

Was war die Folge?
Früher trocknete man den Farbstoff, indem man ihn erst presste, worauf er dann in einen Trockenmixraum konfektioniert wurde [Herstellen der gewünschten Konzentration für den Verkauf, Anmerkung]. Jetzt entschied man sich für ein moderneres Verfahren. Der Farbteig wurde durch einen unterirdischen Tunnel in den Bau 314 geleitet. Dort gab es einen grossen Zerstäuberturm. Darin wurde das Material nun getrocknet und erst dann an einem andern Ort konfektioniert und abgepackt.

Können Sie uns näher beschrieben, wie das funktionierte?
Ein ähnliches Trockenverfahren wird auch gebraucht, wenn man gefriergetrockneten Kaffee, also Instant-Kaffee, herstellt. Die Flüssigkeit wird oben eingefüllt, an den Wänden zerstäubt und ist dann, bis sie unten ankommt, getrocknet.

Wurde das Material daraufhin gleich vor Ort eingepackt?
Das hätte man gerne so gemacht, aber es ging nicht.

Wieso nicht?
Die Farbestoffe wurden jeweils stärker, bzw. reiner produziert, als sie dann verkauft wurden. Wenn ein Verkaufsprodukt angepeilt wurde, dass eine Reinheit von 100 Prozent haben sollte, kam meistens, je nach Zwischenprodukt und Zerstäuberdruck, ein Endprodukt mit 110 oder 115 Prozent Reinheit heraus, wobei das natürlich bei jeder Charge variierte. Also war es nötig, den Farbstoff zu strecken, indem man ihn mit einem neutralen Stoff mischte [sogenannte „Konfektionierung“, Anmerkung]. Nur dadurch hatte das verkaufte Produkt immer die gleichen Eigenschaften, unabhängig von der Charge.

Wie ging man dabei vor?
In 90 % der Fälle wurde Glaubersalz – Natriumsulfat – als Träger verwendet. In seltenen Fällen griff man stattdessen auf Dextrin zurück. Ursprünglich hat man das bei uns in der Ciba gemacht. Nach der Fusion mit Geigy entstanden jedoch neue Betriebe in Schweizerhalle. Also brachte man den konzentrierten Farbstoff dorthin und stellte dort die Mischung her. Aber dabei gab es wieder Probleme!

Welche denn?
In Schweizerhalle hatte Ciba-Geigy andere Schlauch-Anschlüsse. Da mussten sie alles ändern, damit sie den Farbstoff dort in den Mischer bringen konnten. Das war ziemlich kompliziert.

Es ist erstaunlich, ĂĽber was fĂĽr ein grosses Fachwissen Sie verfĂĽgen! Haben Sie denn in einem Forschungslabor gearbeitet?
Neben der Fabrikationskontrolle war ich auch in der Entwicklung und Forschung von Farbstoffen tätig. Weil Sie wussten, dass ich für die Fabrikationskontrolle zuständig war, haben manche Chemiker unserer Gruppe immer wieder Proben geschickt, um heraufzufinden, ob sie auf dem richtigen Entwicklungsweg waren. Denn wenn sie komplett in die falsche Richtung geforscht hätten, hätte das natürlich einen mitunter grossen finanziellen Verlust bedeutet. Dass unsere Gruppe immer wieder Proben zugesandt bekam, obwohl wir relativ klein waren, sorgte manchmal intern für Streit.

Wieso denn?
Die anderen Gruppen fanden, wir würden ihnen die Arbeit wegnehmen. Also ist mir manchmal von oben her die Gruppe „zerrupft“ worden. Dadurch gab es zuweilen bei den Mitarbeitern böses Blut. Auch ich hatte manchmal eine Wut. Erst recht, als ich zwangsversetzt wurde.

Wie kam es dann dazu?
Man hatte nach der Fusion mit Geigy irgendwann begonnen, Farbstoffe rund um die Uhr produzieren. Dafür musste auch die Farbstoffkontrolle angepasst werden; man wollte einen Zweischichtenbetrieb einführen. Jeder sollte unterschreiben, dass er dazu bereit sei. Die meisten haben sich dagegen gewehrt, auch ich. Also hat sich die Firma darauf verlegt, Zwang einzusetzen. Es hiess: „Diejenigen, die keine Schicht arbeiten wollen, werden versetzt.“ Das wollte natürlich niemand aus unserer Ebene. Viele von uns verfügten über ihren eigenen Bereich; an anderen Orten wären sie nicht mehr so sicher gewesen. Ich habe mich entschlossen, mich zu wehren, und meinte: „Hört zu, ich habe zwei Hände und einen Kopf, mich könnt ihr versetzen, wohin ihr wollt." Daraufhin wurde ich tatsächlich zwangsversetzt. Für die anderen war es natürlich ein Schock, dass mit einem erfahrenen Mitarbeiter – ich war damals 55 – so umgegangen wird. Sie bekamen es mit der Angst zu tun und unterschrieben.

Und was passierte mit Ihnen?
Ich wurde vom zweiten Stock in ein leeres Labor im vierten Stock versetzt worden und habe eine Mitarbeiterin bekommen. Anfangs hatten wir gar keine Arbeit. Also haben wir erst einmal die Kästen im Labor, die voller Zeug waren, ausgeräumt und geordnet. Später fanden dann die Chemiker heraus, in welches Büro ich versetzt worden war, und fingen wieder an, Muster zu mir hochzuschicken.

Litten Sie unter der Versetzung?
Nicht allzu sehr. Das Klima in meiner Abteilung war immer angenehm. Zwar sass ich oft lange im BĂĽro, schaute aber auch immer wieder im Labor vorbei. Und wenn jemandem etwas passiert ist, wenn z. B. jemand etwas verschĂĽttete, war ich mir nicht zu schade, beim Aufputzen zu helfen. Umgekehrt haben die Leute auch mir geholfen, was fĂĽr ein gutes Klima gesorgt hat.

Es muss eine spezielle Stimmung gewesen sein, damals. Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass es bei der Roche eine Art „Adelsschicht“ gab. War es bei der Ciba auch so?
Ja! Das mag mit ein Grund gewesen sein, weshalb ich nur begrenzt Karriere machte. Ich wurde zwar für Beförderungen und höhere Posten vorgeschlagen, aber eben nur von der jeweiligen Betriebsleitung, nicht von der Farbstoffleitung.

Aber Sie waren doch sehr talentiert. Gab es vielleicht noch andere Gründe, weshalb Sie nicht befördert wurden?
Ich vermute, dass es auch daran liegt, dass ich nie ein Chargierter in der Armee gewesen war, also keine Militärkarriere gemacht hatte, obwohl ich mich durchaus für Militärdinge interessiere. Ausserdem war bei der Ciba wichtig, dass man im Wander- und Kletterverein Angenstein dabei war. Die meisten höheren Kader waren Mitglieder, ich nicht. Ich erinnere mich noch an ein lustiges Beförderungsgespräch. Man sagte mir: „Ja, Herr J., wissen Sie, wir können nur jemanden aus Ihrer Abteilung befördern und der Herr Maler hat zwei Kinder, die noch in die Schule gehen, deshalb haben wir ihn bevorzugt.“ Da habe ich gesagt: „Ja, das kann ich begreifen, ich habe auch zwei Kinder.“ (lacht)

Und wie haben die Vorgesetzten reagiert?
So, wie ich das auch an Schulungen im Hotel Bad Schauenburg gelernt habe: Sie haben einfach das Thema gewechselt, wie andere Leute die Hosen wechseln.

Wie haben Sie eigentlich darauf reagiert, dass die Herstellung immer mehr automatisiert wurde?
Ich bin ursprünglich Maschinenschlosser, habe also auch ein wenig Ahnung von Technik. Und genau das ist mir auch entgegenkommen, als die Färberei automatisiert wurde, da ich die neue Technologie schnell verstanden habe. Überhaupt war ich immer an Technologie interessiert und habe mir immer Mühe gegeben, die Geräte zu verstehen, die ich benutze, egal, ob ich Fotos geschossen habe oder Auto gefahren bin.

Sie werden im März 2016 82 Jahre alt, machen aber noch einen sehr fitten Eindruck. Wie verbringen Sie ihren Alltag?
Heute Abend gehe ich tanzen. Und als Nächstes möchte ich mir den Chrischona-Fernsehturm ansehen. Später muss ich zur Verkehrspolizei, dann gehe ich zur Mifa.

Organisieren Sie das alles selbst?
Ja, das muss ich alles selbst machen. Ich bin so arm, dass ich sogar die Kinder selber machen musste! (lacht)

Aber der Kanton bietet doch Pensioniertentreffen an.
Das mag sein. Bei der Ciba, der Novartis, aber auch Syngenta, gibt es heutzutage aber Probleme mit den Pensionierten. Die Firmen geben kein Geld mehr fĂĽr PensioniertenausflĂĽge, worunter die Vernetzung unter Pensionierten leidet.

Was haben Sie sonst noch so geplant?
Als Nächstes gehe ich dann vielleicht noch ins Ausland, nach Freiburg. Und dann plane ich eine sechstägige Reise nach Sardinien. Ich habe sie bewusst auf die Zeit nach Ostern gelegt. Das wollte ich mit meiner Frau früher immer machen. Es soll eine richtige Sardinienrundfahrt werden. Die meisten Angebote, die ich gesehen habe, kombinieren Sardinien und Korsika, aber dann sieht man keine der Inseln richtig.

Was fĂĽr Hobbys haben Sie sonst noch?
Fotografieren! Das war schon immer ein Steckenpferd von mir.

Und das machen Sie alles selbst, auch die AbzĂĽge?
Früher, als ich noch Schwarzweissfotos gemacht habe, schon. Die habe ich auch selbst vergrössert. Aber bei Farbfotografien wurde das kompliziert, denn die flüssigen Farbentwickler sind nur für etwa 14 Tage stabil, das war zu teuer und ausserdem hätte ich zu viele Zeit im Dunkelraum verbracht.

Dann lassen Sie heute die AbzĂĽge einfach machen?
Genau, ich bin ich bequem geworden. Auch sonst bin ich ein Minimalist. Ich besitze inzwischen nur noch einen Fotoapparat im Hosentaschenformat für 120 Franken. Früher besass ich noch viel mehr Geräte.

Gab es denn für Sie keine Möglichkeit, die Fotos in der Firma zu entwickeln?
Ja, früher gab es in der Ciba einen Fotoclub. Aber nach der Fusion mit der Geigy ist das, ehrlich gesagt, alles den Bach herunter. Bei der Ciba gab es auch sehr gute Sportvereine. Mit der Fusion sind sie bald verschwunden. – Übrigens, wenn Sie wollen, könnten wir uns ein andermal noch über Dieselmotoren unterhalten. Das ist nämlich mein Spezialgebiet. Ich besitze ein Buch, das sämtliche Typen von Dieselmotoren beschreibt, die es früher bei Armeefahrzeugen gab, das hüte ich wie meinen Augapfel. Oh, und ich hätte auch noch zu erzählen von Basel früher, als das Tram noch auf der anderen Seite der Wiese fuhr. Das Tram ist über die Brücke und am gleichen Ort, wo es jetzt wieder nach vorne fährt, nach vorne gefahren. Es hat schon immer eine Schlaufe gegeben, einfach auf der anderen Seite. Schon damals fuhr das Tram aber über die Klybeckstrasse zurück.

Davon sprechen wir mit Ihnen gerne ein andermal. Herr J., vielen Dank für das Gespräch!
Gerne doch!

Interview Chemiearbeit Ciba Klybeck Farbstoffe Gesundheit

Virtuelle Touren

Themen

Erschliessung

IMGRB

Blix theme adapted by David Gilbert, angepasst für IMGRB von Nicholas Schaffner powered by PmWiki