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Organisation im Quartier - Die Ulme


"Wer Gelegenheit hat, mehrere Jahre im Viertel der chemischen Fabriken Basels zu wohnen, dem drängt sich immer deutlicher die Notwendigkeit auf, dass abgesehen von kirchlicher, ärztlicher und gemeinnütziger Hilfe den Familien Rat und Beistand in den verschiedensten Beziehungen zuteil werden sollte", so umschrieb Mathilde von Orelli 1928 die dem Hilfswerk zugrunde liegende Motivation. Die Ulme operierte auf zwei Ebenen: Einerseits wollte sie Volksbildungsarbeit leisten, andererseits sollte die gegenseitige Nachbarschaftshilfe gefördert werden. Unter Nachbarschaftshilfe wurde vor allem die Hilfe und Anteilnahme Angehöriger der besitzenden Klassen am Leben der Arbeiterschaft verstanden. Sie machten sich zum Nachbarn des leidenden Proletariats, suchten seine Freundlichkeit und boten so weit möglich ihre Hilfe an, schrieb eine ehemalige Ulmen-Mitarbeiterin 1932 in einem Bericht für die Soziale Frauenschule Zürich. So wurde die Ulme auch zu einer Vermittlerin zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft und zu einer Plattform von Frauen und Männern aus der Oberschicht, die Dienst an den Hablosen tun wollten.
Zwar war die Ulme politisch und konfessionell unabhängig und stand allen offen, ihr zugrunde lagen jedoch die Gedanken einer religiös-sozialen Bewegung, deren prominentester Vertreter der Theologe Leonhard Ragaz war. Die Sozialdemokratie wurde von dieser Bewegung als Vorbotin des Reichs Gottes in der Welt verstanden: Der lebendige Gott würde sein Reich in der Welt einrichten und dafür Menschen zur Mitarbeit rufen. Es ging also nicht primär um die individuelle, sondern um eine soziale Befreiung. In der herrschenden Kirche sahen die linken Protestanten eine Kultur, in welcher wirkliche Gerechtigkeit nicht durchsetzbar war.

Deshalb sollten Christen und Sozialisten sich zu gemeinsamer politischer Aktivität verbinden, woraus eine echte religiöse Erneuerung entstehen würde. Die Vertreter des religiösen Sozialismus setzten sich in der Folge für die Arbeiterschaft und deren Anliegen ein. In verschiedenen Schweizer Städten bildeten sich nach 1909 lokale Vereinigungen, in Basel hiess die Gruppierung Sozialistische Kirchgenossen. Die Idee der Ulme, der Settlement-Bewegung überhaupt, durch gemeinsames Wohnen eine Besserung der sozialen Missstände durch ein freundliches Band zwischen Helfern und Bedürftigen zu schaffen, war ein Teil des Gedankenguts der religiösen Sozialisten.

Die Koechlins und Mathilde von Orelli blieben nicht die einzigen sogenannten Siedler im Unteren Kleinbasel. Nach ihrem Umzug ins Arzthaus bezog der ehemalige Pfarrer und Redaktor der Zeitschrift des Blauen Kreuzes Robert Schwarz mit seiner Familie die Räume des Schlösschens gegenüber.

In seinem Roman 'Das Staunen der Seele' nahm Robert Schwarz das Gedankengut der Sozialistischen Kirchgenossen auf. Die Protagonistin ist eine Ärztin, die familiären Konventionen zum Trotz eine Praxis im Arbeiterviertel eröffnet. Auf über 500 Seiten werden in Gesprächen mit Freundinnen, Patienten und Kontrahentinnen sowie durch ihre Handlungen ihre politischen und religiösen Überzeugungen entfaltet. Wie sehr dieser Roman von Schwarz' Erlebnissen mit den Koechlins und Mathilde von Orelli geprägt ist, zeigt sich besonders gegen Schluss, als die Hauptfigur nach einem Nervenzusammenbruch ihre Praxis schliesst und eine Organisation mit dem sprechenden Namen "die Brücke" aufbaut, in welcher "Leute aus der Bürgerschaft und aus der Arbeiterschaft zusammenkommen", um die "Kluft [zu] überbrücken, die unser Volk auseinanderreisst".

Das Engagement der Sozialen Arbeitsgemeinschaft die Ulme

Die Arbeit der Ulme begann 1926 mit einer kleinen Gruppe von elf Arbeiterinnen. Die jungen Frauen trafen sich einmal wöchentlich im Arzthaus, um "bei uns gemeinsam zu spielen, zu arbeiten, zu singen usw.", wie Mathilde von Orelli 1928 festhielt. Bereits zwei Jahre später hatten sich insgesamt fünf Mädchengruppen etabliert, rund 100 Mädchen und junge Frauen fanden sich regelmässig zu den Treffen ein. Parallel begann sich auch eine Müttergruppe zu formieren, die Kontakt und Zugang zu den Familien ermöglichte. Immer mehr Gruppen entstanden, sodass eine Kommission gebildet, finanzielle Mittel sowie mehr Helferinnen und Helfer gesucht und Statuten geschrieben werden mussten.

1929, nachdem es gelungen war, einen Teil des Schlösschens für die Ulme zu mieten, war endlich auch Raum für Knaben- und Männergruppen vorhanden. Ihre Hochblüte erlebte die Ulme in den frühen 1930er-Jahren: Wöchentlich kamen rund 550 Menschen aller Altersgruppen an die Treffen und Veranstaltungen im Schlösschen. Zwischen 20 bis 25 Helferinnen und Helfer arbeiteten nun mit. Zur Ulme hinzugestessen waren einige Freundinnen und Bekannte der Familien Koechlin und von Orelli, aber auch andere, die sich engagieren wollten.

Mathilde von Orelli hatte am 18. September 1931 im Bernoullianum einen beeindruckenden Vortrag über die Lebensformen der Arbeiterfamilie gehalten: Eindringlich schilderte sie einem wohl gut situierten Publikum im Grossbasel das Leben im Unteren Kleinbasel, das geprägt war von engen Wohnungen, eintönigen, häufig ungesunden Arbeitsbedingungen und prekären Einkommenssituationen. Wurde ein Elternteil krank, so gerieten die Familien in Existenznöte.

Mathilde von Orelli erzählte von ihren Erlebnissen im Kontakt mit den Arbeiterinnen und Arbeitern. Ihre Schilderungen zeigen deutlich, dass sie Armut nicht in einem moralisierenden Sinne interpretierte, vielmehr suchte sie die Gründe in sozialen und ökonomischen Zusammenhängen. Mit ihrem Vortrag gelang es ihr, gleich zwei Frauen zur Mitarbeit zu motivieren. Schüler und Studenten, angehende Lehrer und Sozialarbeiterinnen erweiterten den Kreis der Helfenden.

Wichtiger Bestandteil der Ulme war die Bibliothek, die vorwiegend aus geschenkten Büchern bestand und eine entsprechend bunte Palette anbot. Sie erfreute sich grosser Beliebtheit, wie in zahlreichen Berichten hervorgehoben wurde. Mit den Kindern wurde gespielt, erzählt und gebastelt, mit den Müttern genäht und diskutiert. Die Männer trafen sich zu Referaten und Gesprächsrunden. Hausbesuche und Ausflüge gehörten ebenfalls zum Programm.

Seit Beginn ihrer Tätigkeit bot die Ulme Arbeiterfrauen und später auch ganzen Familien die Möglichkeit, kostengünstig Ferien oder Wochenendeausflüge zu unternehmen. Zu diesem Zweck wurden 1931 einige Räume in einem Bauernhaus bei Sissach gemietet.
Zur gleichen Zeit gelang es auch, nach dem Auszug der Familie Schwarz, das gesamte Klybeckschlösschen zu übernehmen. Kurzzeitig wurden Kurse und Lehrgänge in Fremdsprachen, Krankenpflege, Elektrotechnik und Kunstgeschichte angeboten. 20 In dieser Zeit nahm die Arbeitslosigkeit stetig zu, bereits am Vormittag trafen deshalb Erwerbslose im Schlösschen ein, wo sie sich den ganzen Tag in Gemeinschaft aufhalten konnten. Einige der Kurse richteten sich speziell an erwerbslose Frauen und Männer. Die Ulme war in diesen Jahren das Kulturzentrum und der Treffpunkt innerhalb des Quartiers. Da die Bewohnerinnen und Bewohner der Barackensiedlung sich nicht mit den übrigen Quartiereinwohnern mischten, wurde 1932 in einem leerstehenden Häuschen an der Neuhausstrasse eine Filiale eröffnet, das Ulmenhüsli.

Den Höhepunkt des Jahres bildete jeweils das Frühlingsfest im Kirchgemeindehaus St. Matthäus, an welchem sich Kinder und Erwachsene aus der Ulme aktiv beteiligten. Die Vorbereitungen für das Fest begannen bereits im Winter, für 120 bis 150 Menschen mussten Rollen ausgesucht und geprobt werden. Zur Aufführung gelangten zum Beispiel dramatische Volkserzählungen von Leo Tolstoi oder Geschichten von Johann Peter Hebel, wie Heiner Koechlin rückblickend festhielt. In Erinnerung geblieben sind ihm auch die Ansprachen seines Vaters, der teils humorvoll, teils ernst seine Familie willkommen hiess. Zwischen 700 und 800 Leute kamen jeweils an das Fest.

Das Kursangebot der Ulme wurde im Frühling 1933 eingestellt. In den Berichten über die Ulme wurde erklärend festgehalten, dass Kirche und Staat diese Aufgaben inzwischen übernommen hätten. Den Jahresberichten zufolge rückte die Arbeit in verschiedenen Gruppen wieder ins Zentrum. Bis 1936 kamen im Winter noch rund 550 Personen wöchentlich an die Gruppenabende, zu Chorproben, Gesprächen oder in die Bibliothek. Ende des Jahres 1936 musste die Tätigkeit schliesslich aufgrund finanzieller und personeller Begrenzungen reduziert werden: Nach zehnjähriger Arbeit für die Ulme musste Mathilde von Orelli wegen Überarbeitung einen längeren Erholungsurlaub antreten. Trotz intensiver Suche konnte keine Nachfolgerin gefunden werden. Hinzu kam der Mangel an finanziellen Mitteln. Die Ulme hatte während ihrer Existenz immer mit finanziellen Engpässen zu kämpfen gehabt, erhielt sie doch weder von staatlicher noch von privater Seite regelmässige Unterstützungsbeiträge.

Die Miete des Schlösschens musste aufgegeben werden und in der Folge wurden auch die meisten Gruppen aufgelöst. Für die Schülerinnen und Schüler wurden innerhalb der Schule alternative Zusammenkünfte organisiert. Einige Gruppen für Schulentlassene konnten in einem Hinterhaus
weitergeführt werden. Mit dem Kriegsausbruch wurde es zunehmend schwieriger, geeignete Hilfskräfte für die Organisation und Betreuung zu finden . 1941 erschien der letzte Jahresbericht: Alle Gruppen waren aufgehoben worden. Aufrechterhalten wollte man indessen die Hausbesuche, um auf diesem Weg in Not geratene Menschen weiterhin unterstützen zu können. 1943 schliesslich wurde die Ulme ganz aufgelöst.

Helene und Eduard Koechlin blieben noch bis 1950 im Quartier. Erst nach der Pensionierung zogen sie sich in ein Haus in Münchenstein zurück. Eduard starb 1964 und Helene 1973 in Basel. Mathilde von Orelli arbeitete von 1943 bis 1958 als Sozialarbeiterin bei der Basler Winterhilfe.
Sie starb 1983 in einem Altersheim in Kleinhüningen.

Familie Koechlin um 1925: Helene, Felix, Eduard, Heiner und Esther (von links nach rechts).

"Schwarzli und wir": Heiner, Esther und Felix Koechlin im Garten des Schlösschens zusammen mit ihrer Mutter und den Nachbarskindern Marianne und Martin Schwarz, um 1927.

"Meine Ulmenkinder" schrieb Esther Koechlin in ihrem Album unter diese beiden Bilder.

Heiner Köchlin Armut Selbsthilfe Foto Kleinhueningen Klybeck

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